I. Begriff, Gegenstandsbereich und ForschungsperspektivenBereits in der Antike gab es verschiedene Bezeichnungen für die Lieder unterschiedlicher Standesgruppen, wie bei den Römern rustica carmina oder rusticum vetus canticum für die Lieder der Landbevölkerung (G. Wille, Musica Romana. Die Bedeutung der Musik im Leben der Römer, Adm. 1967, S. 109). Im Mittelalter wurde dann von carmen pastorale, Purengesangk oder Reuterliedlein gesprochen (W. Wiora 1970, S. 425). Praetorius definierte die Villanelle als ein »Bawrliedlein, welche die Bawren vnd gemeine Handwercksleute singen« (PraetoriusS 3, S. 21). Der Begriff Volkslied wurde erstmals von Johann Gottfried Herder 1771 in Nachbildung des englischen popular song verwendet (Herders Sämtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, 33 Bde., Bln. 1877–1913, Bd. 5, S. 174) und von u. a. von G. A. Bürger, F. Nicolai, J. H. Voß und Goethe aufgegriffen.Herders Bemühen um das Volkslied stand im Kontext jener literarischen Bewegungen, deren Inhalte und Formen entscheidend von der Aufklärung geprägt waren. Neben der Gestaltung der eigenen Subjektivität und der Zeiterfahrung stand vor allem das Bemühen um mehr Volkstümlichkeit, d. h. die Orientierung an den Interessen und der Aufnahmefähigkeit des Volkes, im Zentrum der poetologischen Diskussionen. Die Volkslieder hatten dabei eine Vorbildfunktion für den ›...