A. Bis zum 14. JahrhundertI. DefinitionDer Begriff Musica ficta (von lat. fingere = ausdenken, ersinnen), auch falsa musica oder coniuncta, bezeichnet Tonstufen, die sich ein ausführender Musiker aus dem Kontext zu erschließen hatte (K. Berger 1987, S. 12), da sie an dieser Stelle nicht im mittelalterlichen Tonsystem vorkamen. Dieses System, das in musiktheoretischen Traktaten skalenmäßig – zunächst als Doppeloktav-System nach Art des antiken Größeren Vollkommenen Systems (→Griechenland, V.1., Sp. 1651), seit dem 12. Jh. um der sieben Hexachorde willen im Raum von Γ bis e’’ (siehe Abb. 1) – oder auch als Hand (→Handzeichen III.; Hexachord I.-III.) dargestellt wird, repräsentiert die musica recta oder vera (die ›richtige‹ oder ›wahre‹ Musik).Abb. 1: System der sieben Hexachorde (verbreitet seit dem 12. Jh.) mit den von Guido (um 1025) verwendeten BezeichnungenWichtige Eigenart des Systems waren die beiden Tonstufen, die den Raum zwischen a und c im acutae- und superacutae-Bereich ausfüllen: das runde bzw. weiche  (b-rotundum oder b-molle) und das eckige...