I. TerminologieIm heutigen musikalischen Sprachgebrauch bezeichnet Kanon das elementarste, zugleich aber auch strengste und damit anspruchsvollste Prinzip polyphoner Satztechnik: die durchgängige strikte Nachahmung einer führenden Stimme (Guida, Dux) in der (bzw. den) nachfolgenden (Conseguente, Comes); ferner werden Stimmverhältnisse und Kompositionen, die diesem Satzprinzip entsprechen, als Kanon bezeichnet. Einsatzabstand und -intervall der nachfolgenden Stimme(n) werden spätestens seit der Mitte des 18. Jh. in der Regel angegeben bzw. auskomponiert, im 15. und 16. Jh. dagegen mit Vorliebe hinter orakelhaft geheimnisvollen, meist lateinischen Anweisungen (Canones) verborgen. Die Erschließung der nicht notierten Folgestimmen anhand der dunklen Formulierungen einer solchen Devise gerät damit vielfach zum Rätsel (Rätselkanon). Erst nach der Mitte des 16. Jh. verwenden einzelne Theoretiker das Wort Kanon nicht mehr ausschließlich für die Devise zur Lösung dieses Rätsels, sondern allmählich auch für die führende Stimme, für das aus ihr gebildete Stück und schließlich für das Satzprinzip selbst, das zuvor und vielfach auch späterhin meist als Fuga bezeichnet wird (so G. Zarlino 1558 und von ihm abhängige Autoren bis tief ins 17. Jahrhundert).Der elementare Charakter des Satzprinzips wird faßbar an seiner Verbreitung in der Volks- und Laienmusik...